Früher habe ich Hornkiesel auf Beete gesprüht. Im Morgennebel. Ganz still. Da war etwas Heiliges in diesem Moment. Keine Worte, kein Eso-Glitzern. Nur das feine Gefühl: Hier wirkt etwas Größeres mit.
Heute leite ich Tantra Seminare. Und manchmal denke ich: Es ist gar nicht so anders.
Auch hier geht es um Berührung – und nicht nur der Haut.
Sondern der Berührung mit dem, was zwischen uns lebt, webt. Zwischen dem Blick. Dem Blick in die Augen des Anderen. Dem Augenblick. Dem Atem. Dem Handhalten.
Die Ernsthaftigkeit, die ich damals in der Waldorfschule gespürt habe – in der
Art, wie ein Kind eine Möhre malt – die finde ich heute wieder. Wenn zwei Menschen einander wirklich begegnen. Wenn eine Berührung, eine Massage, nicht nur angenehm ist, sondern Wahrheit trägt.
Tantra kann heilig sein. Andächtig. Wach. Konzentriert. Ernsthaft. Und auch unschuldig – ja, vor allem ist es unschuldig. Und manchmal so geerdet wie ein Morgen im Garten, mit kalter Erde unter den Fingern.
Und manchmal, wenn zwei Menschen einander so begegnen – im Vertrauen, in echter Nähe – dann sind sie eingehüllt. In etwas Größeres. Es ist wie ein unsichtbarer Mantel. Ein Mantel aus Liebe.
Einer meiner Auszubildenden sagte einmal – selbst staunend über die Erkenntnis: „Tantra Massage ist reine Liebe!“
Es ist dabei im Grunde egal, ob ich den Kopf eines Menschen, seine Hand oder den Schoß berühre. Eine Tantra Massage wird nicht dadurch zu einer Tantra Massage, weil sie Intimberührungen enthält. Nein, ich kann ebenso eine Schulter, eine Hand, einen Fuß tantrisch berühren.
Das Besondere ist: Ich wage es, ganz da zu sein. Mich ganz in die achtsamliebevolle Berührung zu begeben. Mich wirklich einzulassen. Dabei zählt – neben der Technik – vor allem die innere Haltung.
Und wenn ich einen Menschen intim berühre, eine Vulva – eine Yoni, einen Penis – oder Lingam, wie wir ihn im Tantra nennen, dienen diese Berührungen der Erforschung oder insbesondere der Entspannung im Genitalbereich.
Wenige Menschen wissen, wie sich wirkliche Entspannung im Intimbereich ihres Körpers anfühlt.
Wenn Du von Deinem Liebespartner berührt wirst – oder wenn Du Dich selbst berührst – ist es meist verbunden mit der Erwartung von Erregung. Vielleicht ist es Deine eigene Erwartung. Oder die Deines Gegenübers: Die Berührung möge Erregung bringen, möge die sexuelle Begegnung anfachen.
Doch wir können entdecken: Genitalien freuen sich, wenn einfach eine Hand aufgelegt wird. Wenn sie gehalten werden. Und nichts Besonderes geschehen muss. Reines Gewahrsein. Dasein. Mit meiner Aufmerksamkeit. Mit meiner liebenden Hand.
Das ist eine so wichtige, oft vermisste, ganzheitliche Erfahrung: Gesehen zu werden. Wahr genommen zu werden. Sein zu dürfen. Halt zu bekommen.
Du kannst Dir auch selbst die Hände auflegen. Als Frau aktivierst Du Deine sexuelle Energie am besten, wenn Du Deine Handteller auf die Brustknospen legst. Und ein Mann aktiviert seine Energie am besten, wenn er die Hand auf seinem Lingam ruhen lässt.
So kann sich Energie aufbauen, aufbäumen, entladen, fließen, stocken, vibrieren, sich ausbreiten. Alles kann lebendig werden, pulsieren. Du kannst Zartheit empfinden, Lust – oder Ausruhen dürfen. Du kannst Dich ausdehnen, die sexuelle Energie sich ausbreiten lassen – bis sie Dich einhüllt in einen Mantel aus Liebe.
Eine wunderbare Übung für Paare ist das sogenannte Kopf-Fuß-Liegen: Beide legen sich auf den Rücken, umgekehrt zueinander, so dass der Kopf des einen bei den Füßen des anderen liegt. Becken ganz eng aneinander.
Dann schwingt die Frau das innenliegende Bein quer über den Bauch des Mannes zur gegenüberliegenden außenliegenden Schulter. Sie greift unter seinem Knie hindurch und legt ihre Hand auf seinen Lingam. Er legt seine Hand auf ihre Yoni – das weibliche Genital. Vielleicht muss die Frau die Beine etwas öffnen, damit die Hand gut satt von unten angelegt werden kann.
Und dann: RUHE.
Einfach liegen. Nicht streicheln. Nicht krabbeln. Atmen. Spüren. Sein.
Diese Übung wirkt auch wunderbar von Mann zu Mann:
Der Lingam – das Zentrum der männlichen sexuellen Energie – ist der magnetisch positive Pol. Er braucht Zuwendung.
Für Frauen ist die Brust von zentraler Bedeutung. Sie ist das Zentrum der weiblichen Lust. Der magnetisch positive Pol des weiblichen Körpers.
Alles Lebendige beruht auf einem Magnetismus.
Ein Apfel: Pluspol oben am Stil. Minuspol unten am Kelch.
Die Erde: Plus am Nordpol, Minus am Südpol.
Und Energie strömt immer von Plus nach Minus.
So könnte eine nährende Übung für zwei Frauen aussehen:
Sie halten sich gegenseitig die Brüste – nacheinander: 10 Minuten die eine, dann 10 Minuten die andere.
Wenn ich an einen Mantel aus Liebe denke, dann erscheint mir der blauen Mantel der Maria. Vielleicht kennt Ihr solche Darstellungen: Die Mutter Maria trägt einen weiten blauen Umhang. Ein ganz bekanntes Bild dazu ist die Sixtinische Madonna von Raffael.
Dieser Mantel schützt. Er gibt Geborgenheit.
Die Farbe der Mutterliebe ist blau. Blau? Warum blau, wirst Du sagen.
In meiner Auseinandersetzung mit ätherischen Ölen
begegnete mir das tiefdunkelblaue Öl der Deutschen Kamille. Es steht für Mutterliebe, Halt, Geborgenheit – für den blauen Mantel.
Und manchmal, ja, legt sich tantrische Energie über uns wie dieser Mantel. Ein Mantel aus bergender Liebe.
Eurythmie. Eu-Rythmie. Der schöne Rhythmus.
Früher stand ich auf der Bühne, bewegte Verse durch den Raum.
Heute bewege ich Hände über Haut, Worte durch Stille, Blicke durch Räume. Und immer geht es um dasselbe: um das Unsichtbare, das durch uns wirkt.
Ich erinnere mich an eine Übung aus der Eurythmie: Wir sollten das Wort „Ich“ formen. Nicht sagen, nicht denken – formen. Ich spürte, wie dieses kleine Wort durch meine Glieder floss, wie es Gestalt annahm.
Heute, in der Massage, wenn ich einen Menschen berühre, spüre ich manchmal wieder dieses „Ich“ – nicht meins, nicht deins. Sondern das, was dazwischen lebt.
Manche Menschen kommen zu meinen Seminaren mit bestimmten Vorstellungen: Sinnlichkeit, Körperarbeit, vielleicht ein bisschen Ekstase, vielleicht einen Liebespartner finden?
Und dann sitzen sie plötzlich in Stille. Halten Getreideähren in der Hand. Der Duft von Kamille liegt in der Luft. Und in der Mitte des Raumes: ein Stein.
„Ich kam wegen Tantra – und blieb wegen etwas ganz anderem“, sagte eine Teilnehmerin.
Was dieses Andere ist?
Vielleicht eine Erinnerung. An etwas Heiliges. An etwas, das größer ist als wir. An etwas Stilles, Warmes, Wahres. Das ist in uns allen. Diese Erinnerung.
Wie damals im Garten, wenn der Nebel sich hebt, und der Hornkiesel glitzert. Ich erinnere mich: Wie ich frühmorgens über das Beet ging, mit feuchten Händen und offenem Herzen. Eine einfache Handlung – und doch ein Gebet.
Heute lege ich eine Hand auf einen Körper. Und wieder ist da dieses Staunen. Diese stille Gewissheit: Ich bin Teil von etwas, das mich übersteigt.
Tantra und Anthroposophie – für mich sind sie wie zwei Wege zum selben Quell.
Beide sprechen vom Licht im Stoff. Vom Geist im Körper.
Vom Wachsen, vom Werden, vom Wesen.
Und beide laden ein – nicht nur zum Tun, sondern zum Dasein. Zum Lauschen. Zum Mitwirken am Lebendigen.
Und manchmal, wenn alles stimmt – der Moment, der Mensch, der Atem – legt sich etwas über uns. Wie ein Mantel. Ein Mantel aus Liebe.
Vielleicht ist genau das der Weg: Die Einfachheit wiederfinden. In einem Blick. In einer Berührung. In einer Hand voll Erde.
Komm – geh ein Stück mit mir.